In den letzten Wochen hatte ich einen glänzenden Lauf, was gute Bücher betrifft. Drei davon möchte ich auswählen und als Lektüre empfehlen. Nicht nur, weil sie teuflisch gute Unterhaltung bieten, sondern auch, weil sie für Autoren interessant sind. Man kann rauslesen, wie die Autoren die Spannung aufgebaut und präsentiert haben, den Handlungsverlauf gliedern, die Charaktere zum Leben erwecken. Heißt natürlich nicht, dass man das auch gleich nachbauen kann. Da steckt verdammt viel Arbeit und vor allem sehr viel Können und Erfahrung, Erfahrung, Erfahrung dahinter.
Dann nehme ich auch noch eine Serie dazu, einfach weil diese von einem Drehbuchautor geschrieben wurde, der sehr viel Wert auf Charaktere, deren Entwicklung und Geschichte gelegt hat, um damit eine fesselnde, epische, tragische Geschichte zu erzählen.
Edward Lee: Dahmer ist nicht tot; Festa 2017, Original 1999
Edward Lee hat hier – mit Untestützung der Serienkiller-Spezialistin Elizabeth Steffen – einen Polizei-Thriller geschrieben, ein Procedural, einen Serienmörder-Roman, und die Geschichte am wahren Fall Jeffrey Dahmer aufgehängt, um daraus eine frei erfundene Handlung zu weben. Rausgekommen ist ein Musterbeispiel eine fesselnden, atemberaubend spannenden Thrillers. Und er hat mit Helen Closs eine wahrlich eigenwillige Figur erschaffen.
Mal abgesehen davon, dass Lee – fast naheliegend – die Abläufe von Ermittlungen kennt, hat er hier eine perfekte Balance gefunden zwischen dem Detailwahnsinn, der faszinierend ist, aber bei weniger kontrollierten Autoren schnell Überhand gewinnen kann. Er schildert und genug Kleinigkeiten, um absolut authentisch und wissend zu erscheinen, lässt aber so viel weg, dass die Geschichte nicht dadurch ausgebremst wird.
Das Buch liest sich zügig, nicht rasend. Dafür ist es in seinem Tempo beständig, wird zu einem gleichmässigen Strom, der es den geneigten Lesern ermöglicht, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Das sind erstens die bizarre, übersteigerte, zugleich jedoch voll glaubwürdige Handlung, die uns der Autor hier auftischt. Zweitens ist die Motivation der Protagonisten, der Antagonisten und der Nebenfiguren nachvollziehbar. Sie agieren wie echte Menschen, nicht wie Figuren, die herumgeschoben werden, um bestimmte Effekte zu erreichen.
Und dann ist da Helen Closs, die Ermittlerin. Das ist ein prächtig entwickelter Charakter. Sie ist perfekt. Sie ist nach außen selbstsicher, hadert aber mit ihrem Alter. Sie ist übellaunig, aber emphatisch. Sie hat eine Beziehung, die all den Mist bietet, den jeder von uns gelegentlich erlebt. Sie hat Schwächen, sie hat Stärken, sie ist überaus klug, hab absurde Neurosen, sie macht Fehler. Sie ist, auch nicht unwichtig, eine sexuell interessante Frau. Helen Closs ist keine Frau, die es einem Partner leicht macht. Trotzdem möchte man sie zur Partnerin haben – sie spricht alles an Gefühlen an, die man für einen Menschen aufbringen kann.
Die Figur Helen Closs trägt den Roman und ist das, was den Roman funktionieren lässt. Ein schwächerer Charakter würde unter der Last der Handlung und dem starken Umfeld … nun, nicht zusammenbrechen, aber die Figur wäre blass und schwach und das ist für die Identifikationsfigur eine Katastrophe. Aber Edward Lee ist hinter all seinem Blut und Gedärm und den pornografischen Sexeinlagen ein versierter, sicherer Handwerker, ein tadelloser Geschichtenerzähler, das hat er immer wieder unter Beweis gestellt (Das Haus der bösen Lust z.B.).
Dahmer ist nicht tot ist, als ob es dessen bedarf, ein weiteres Beispiel dafür, dass Lee alles schreiben könnte, aber tatsächlich nur schreibt, was ihm Spaß macht. Und das ist nur einer von vielen Punkten, die für ihn sprechen.
Edward Lee: Dahmer ist nicht tot … Kindle Edition und Paperback bei Amazon …
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Graham Masterton: Bleiche Knochen & Gefallene Engel; Festa 2017, Original 2013
Auch Graham Masterton ist ein überaus erfahrener Autor, seit Jahrzehnten im Geschäft. Er erschien auch schon vor Ewigkeiten auf Deutsch, allerdings in furchtbar verkackten Ausgaben, in denen Goldmann und Bastei ihn verbraten und aufgegeben haben. Die Festa-Editionen sind wahrhaftig die besten Ausgaben von Masterton-Titeln, die auf je von ihm zu haben waren – zumindest bei uns.
Bleiche Knochen nun ist der erste Roman einer Serie um die irische Ermittlerin Katie Maguire. Masterton, der in England lebende, geborene Schotte, versteht sich meisterlich darauf, die Leser in den Sog Irlands zu ziehen. In die Kälte, das Grün, den Nebel und die Nässe. Er bringt uns die Iren nahe, er bringt uns die mühsame, unentwirrbare Verflechtung von Katholizismus, Politik und Alltag nahe.
Masterton fordert mit enorm brutalen, schwerst sadistischen und gestörten Morden heraus – und er begründet sie logisch! Er bringt die Leser dazu, die Motive für diesen Irrsinn tatsächlich zu verstehen, verwurzelt sie in Geschichte, Tradition, Glauben, im Menschsein. Und er zeigt uns Katie Maguire, die im Irischsein wühlt wie im Gedärm und er lässt uns ihr verfallen. Katie muss man nach einer Weile lieben.
Sie ist ein ganz anderer Charakter als Helen Closs bei Edward Lee, aber sie ist genauso komplex, vielleicht sogar noch eine Spur mehr, weil ihr Privatleben fordernder ist, noch mehr Probleme aufwirft, die sie lösen muss. Auch Katie Maguire schreckt nicht davor zurück, Waffe und Fäuste sprechen zu lassen, auch wenn sie es eindeutig bevorzugt, gewaltfrei vorzugehen. Und sie ist hartnäckig.
Alter, Optik, Sexualität, grundlegende Wesenszüge – alles anders als bei Helen Closs, und doch ist sie ein ebenso fesselnder, komplexer, realer Charakter, der die Geschichte trägt, mehr noch, die Leser in die und durch die Handlung führt. Ein solides Gerüst aus Nebenfiguren, einen Tick weniger komplex als bei Lee, dafür in der Stimmung und den Schauplätzen präsenter, präsentieren auch die Katie Maguire-Thriller eine ausgereifte Form des Erzählens.
Bis jetzt hat Festa die ersten beiden Roman rausgebracht, wo es noch einen ganzen Haufen mehr gibt – insgesamt 7 Romane und 2 Erzählungen. Übrigens ist eine der Erzählungen, Auge um Auge, beim Verlag gratis als eBook erhältlich.
Das Faszinierende an dieser Erzählung ist jetzt aber folgendes: Ihr Scheitern. Alles, was die Romane so großartig macht, ist in der Story abwesend. Sie ist sogar für einen Idioten wie mich, der bei Agatha Christie nie den Mörder erraten hat, durchschaubar. Katie Maguire hat nicht genug Spielraum, um ihre Stärken auszuspielen und die Sache könnte überall spielen, ist nicht spezifisch für Irland, wie es die Romane sind.
Für Schreibende ist das Lesen der beiden Romane und dieser Story ein Quell der Erkenntnis. Wie bei so vielen Dingen lernt man sehr viel dadurch, dass man sieht, was man nicht machen soll – und die Story zeigt es anschaulich, vor allem, wenn man gelesen hat, wie verflucht gut die Romane sind. Meine Empfehlung gilt deshalb auch unbedingt der Geschichte. Sie kostet kein Geld, nur ein wenig Zeit. Aber der Lerneffekt ist es absolut wert.
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Godless; Regie und Drehbuch: Scott Frank; Netflix 2017, 7 Episoden (zw. 41-80min)
Eine Western-Serie. Ja, ich weiß. Aber viele von euch mögen Fargo – die Serie, nicht wahr? Nun, die 2. Staffel ist formell gesehen auch ein Western, oder? Schon. Sowohl von den Charakteren, dem Aufbau der Story um die Familie versus der Ermittlerin bis hin zur Kamerapositionierung und der Bildgestaltung ist Fargo, Staffel 2, ein Western.
Ich habe sorgfältig darauf geachtet, keine Spoiler hinzuzufügen, die über das hinausgehen, was die IMDb verrät. ACHTUNG, WIKIPEDIA (DE) SPOILERT VÖLLIG UNNÖTIG! Wikipedia US hat eine Aufstellung der einzelnen Episoden und ihrer Handlung parat.
Die ersten Folgen lässt sich diese in sehr langsamen Erzähltempo geschilderte Serie Zeit, um die Charaktere aufzubauen und zu verdichten. Den Antagonisten Frank Griffin lernen wir gleich in der ersten Folge so richtig zu hassen und zu verabscheuen, wir finden Roy Goode undurchschaubar und zwielichtig, die Frauen des Städtchens faszinierend vielfältig, Alice Fletcher drücken wir die Daumen und wünschen ihr unbedingt ein Happy End … der Autor bietet alles an Erzählunst auf, um uns lebende, realistische, glaubwürdige Figuren zu präsentieren, in die wir Emotionen investieren.
Und dann geht er her und macht sich daran, wie mit einem Kartoffelschäler Schnitt für Schnitt die aufgebauten Schichten wieder abzutragen, um ganz andere Dinge zum Vorschein kommen zu lassen. Hat er uns hinters Licht geführt oder sind die Figuren noch komplexer als gedacht? Und worauf, um Himmels Willen, läuft das alles hinaus?
Es sind so viele Figuren, die wir beobachten, die interagieren, die ganz eigene Charaktere sind, es ist ein purer Reichtum an Figuren. Und derweilen dreht das Drehbuch einen Galgenstrick nach dem anderen. Und dann macht die Serie einen Game-of-Thrones-Stunt – sie lässt sterben. Vollkommen unerwartet. Und ab dem Moment hat man als Zuschauer das deprimierende Gefühl zu wissen, dass es nur eine einzige Form von Ende für diese Serie geben kann. Doch dann …
Godless ist ein langsamer Western – das Tempo ist ungefähr jenes von Spiel mir das Lied vom Tod. Es ist eine Serie überaus starker und interessanter Figuren – und sehr vieler davon. Scott Frank hat sehr viel Zeit und Gedanken darauf verwendet, ein Ensemble großartiger Figuren zu erdenken und sorgfältig zu inszenieren. Aber ob Western oder Land-Krimi (Fargo, Staffel 2!!) ist relativ egal. Es ist eine verdammt gut erzählte, klassische Geschichte, wie sie schon Shakespeare erdacht hat, und sie wird mit tollen Charakteren bereichert und birgt Überraschungen.
Godless ist ein Roman in Form einer Serie und eine interessante Studie in Sachen Charakterentwicklung.
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Besten Gruß und schreibt gut!
John
Der Beitrag [STUDIUM]: Drei Bücher und eine Serie erschien zuerst auf JohnAysa.net …
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