Sie tickt recht laut dort oben, wo sie ihren neuen Platz gefunden hat. Von der Küchenkommode blinzelt sie mit ihrem großen Auge hinab und beobachtet die Familie bei ihren alltäglichen Verrichtungen – vorwiegend dann, wenn sich alle zum Essen versammelt haben. Ihr Blick ist hauptsächlich auf den Küchentisch gerichtet.
Zu jeder Halbzeit der vollen Stunde fühlt sie sich bemüßigt, mit einem Glockenschlag diesen Umstand kundzutun,, während sie zur vollen Stunde loslegt und der Uhrzeit entsprechend oft ding-dongt. Sie ist eine betagte Dame, aber tadellos in Schuß. Ihr Pendel tickt rhythmisch und verliert über die Woche keine Minute an Zeit. Es eilt auch nicht voraus in die Zukunft, es bleibt in der Gegenwart verhaftet und tut, was es zu tun hat.
Ihr genaues Geburtsdatum hält sie, wie viele Damen, unter Verschluß. Trotzdem kann man ihr Entstehen auf Anfang/Mitte der 1930er Jahre datieren. Und sie hat mir gestattet, für diesen Beitrag ein Foto von ihr zu machen:

Hübsche Uhr, finde ich. Schlicht, unverkennbar altmodisch im Aussehen, mit zwei Uhrwerken zum Aufziehen. Junghans war der Hersteller, der auf seiner Website natürlich keinerlei Informationen über das alte Stück anbietet. Pfff.
Die im Uhrwerk eingravierte Ziffer würde sie auf 1928 datieren, wenn die Lesart, die ich online in diversen Foren gefunden habe, so stimmt. Aber da bin ich im Zweifel, weil die Angaben über die Ziffernsystematik nicht ganz so sind wie das, was ich erlese. Oder verstehe.
Auf alle Fälle gab es die Uhr im Jahr 1935 – meine Großeltern väterlicherseits haben in dem Jahr geheiratet und die Uhr war ein Hochzeitsgeschenk. Damit ist sie wenigstens 80 Jahre alt und tadellos im Zustand.
Ich erinnere mich daran, wie sie auf der Kommode im Wohnzimmer bei meinen Großeltern stand und jedes Mal, wenn ich Knirps zu Besuch kam, habe ich ein paar Minuten damit verbracht sie anzusehen und ihr beim Ticken und ding-dong-machen zuzuhören.
Wann genau die Uhr zu meinem Vater kam, weiß ich nicht. Er hat sie mir vor einigen Jahren übergeben und ich hatte sie weggestellt, ohne sie jemals aufzuziehen, weil es zu dem Zeitpunkt einfach die falsche Wohnung für so eine Uhr war und mir damals das Ticken zu laut erschien. Es gab einfach keinen Platz, an dem sie passte.
Aber jetzt ist sie mit uns übersiedelt, hat ihren Platz gefunden – dort, wo sie steht, steht sie, als wäre es nie anders gewesen – und tickt. Immer noch so laut, wie ich sie in Erinnerung hatte, tickt und schlägt sie mit ihrer altmodisch-nostalgischen Stimme die volle und die halbe Stunde. Meine Befürchtung, sie könne lästig fallen, hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil, ich möchte eher sagen, dass von ihr eine gewisse Ruhe ausgeht – wegen dem Geticke. Definitiv sehr geschätzt wird das Ticken von meiner Frau, die diese Uhr schon jetzt liebt.
Wie oft ich sie aufziehen muss, weiß ich gar nicht genau – bis jetzt habe ich es immer zu früh probiert, da war der Schlüssel kaum eine Umdrehung zu bewegen, bis das Uhrwerk bis zum Anschlag gespannt war. So ganz klar ist mir nicht, warum ich seit ihrer Inbetriebnahme so einen Narren an der Uhr gefressen habe – es hat nichts mit meinen Großeltern oder nostalgischen Erinnerungen zu tun. Ich würde nicht wagen zu behaupten, dass meine Familie und ihre Geschichte sonderlich für nostalgische Erinnerungen geeignet ist.
Ich mochte die Uhr einfach schon immer und freue mich, sie hier zu sehen und zu hören.
Und wer sich fragt – ich WEISS, dass das der Fall ist, wirklich, ich weiß das – was auf dem Foto links von der Uhr da für ein Holz zu sehen ist, das ist der Deckel einer Weinkiste vom Diogenes Verlag. Das Grüne rechts ist eine Aloe Vera. Und das alt aussehende Sideboard, auf dem die Uhr thront, ist neu und von Ikea :-)